Leider habe ich vergessen, Kind zu sein. Jeden Tag, den ich erwachsen war, habe ich es verlernt. Ich bin jetzt groß. Ich lebe ein Leben, das von den Menschen um mich herum akzeptiert wird, vollkommen gesellschaftskonform. Ich meide schlechtes Wetter. Wenn es mich überhaupt nach draußen zieht, dann nur mit meinem Regenschirm. Ich möchte einen rosafarbenen Regenschirm, aber ich habe einen dunkelblauen. Ich bin schließlich kein Kind mehr, noch dazu ein Mann. Ich freue mich auf den Sommer. Jeder freut sich auf den Sommer, die heißen Sonnenstrahlen. »Nein!«, schreit das Kind in mir, »Ich hasse den Sommer, die Hitze, das grelle Licht, das mich frühmorgens aus dem Schlaf reißt.« Natürlich lege ich mich früh schlafen, ich brauche wie jeder andere Mensch meine acht Stunden Schlaf. »Nein!«, schreit das Kind in mir, wenn ich mich morgens um drei ins Bett lege und nur wenige Stunden später um sieben zur Arbeit fahre. Ich bin ein Nachtmensch. Der Tag ödet mich an! Menschen, Stimmengewusel, grelles Licht. Ich genieße die Zeit im Winter, fange Schneeflocken mit meiner Zunge und lausche der dumpfen, stilleren Welt. Ich freue mich über Eis und Schnee, über dunkle Tage, an denen das Gewitter über meinem Kopf grollt. Ich liebe es, barfuß durch den Regen zu laufen. Doch ich hasse die Blicke, die dann auf meinem Körper liegen, als hätte ich etwas an mir, das nicht normal ist.

»Was ist normal?«, fragt das Kind in mir. Als Kind war all das normal. Jeder lächelte mich an, wenn ich barfuß durch Pfützen sprang, allein beim Anblick von Zuckerwatte strahlte. Nur weil ich jetzt groß bin, darf ich das nicht mehr? Weil ich jetzt erwachsen bin, mache ich das alles nicht mehr? Man fährt nicht einfach vierhundert Kilometer ans Meer, um einen Kaffee zu trinken, sagen die Großen. Kaffee gibt es auch zu Hause. Doch, sagt das Kind in mir und wärmt sich die Hände an dem heißen Kaffeebecher, während mein Blick über das endlose Meer schweift. Wie kann schlechtes Wetter toll sein, fragen mich die anderen. Wer hat eigentlich entschieden, was gutes oder schlechtes Wetter ist? Ich fühle mich wohl, wenn es regnet oder schneit, die Luft so kühl ist, dass meine Haut ein wenig spannt, meine Ohren rot glühen.

Das Kind in mir schreit: »Kauf das jetzt, es ist bunt!« Ich schüttele den Kopf. Das brauche ich nicht. Vor nicht allzu langer Zeit stellte das Kind in mir eine Frage: »Wärst du traurig, wenn du jetzt deinen letzten Atemzug machst, oder hast du dein Leben geliebt?« Ich fühlte, wie das Blut in mir einfror und sich nur noch zäh durch meine Adern schob.

»Mach das jetzt einfach, du möchtest es doch schon so lange«, tobt das Kind in mir. Ich schüttele den Kopf. Das geht nicht. Ich bin erwachsen, habe Verpflichtungen. Was sollen die anderen denken? Mit einem Mal schmerzt jeder Atemzug, pulsiert in meiner Brust. Ich höre die Herzschläge des Kindes in mir. Sie werden leiser. Ich renne los, springe barfuß in jede Pfütze, halte meinen rosafarbenen Regenschirm stolz über mich und zeige ihn der Welt. Ich lasse alles los, kaufe das kleine, bunte Windrad, das sich unaufhaltsam dreht. Es macht mich glücklich. Mir ist egal, was die anderen denken. Wenn ich an meinen letzten Atemzug denke, will ich auf mein Leben zurückblicken und lachen.

Das Kind in mir lacht: »Und jetzt kauf uns Zuckerwatte.«


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